Prof. Dr. Tim Lohse ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin) und Research Affiliate am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen in München. Er forscht und publiziert unter anderem zu europäischer Steuer- und Arbeitsmarktpolitik sowie volkswirtschaftlichen Strategien in Abhängigkeit von Entwicklungen auf internationalen Märkten.
Prof. Lohse, wie bewerten Sie als Volkswirt die Entscheidung von Volkswagen, trotz eines hohen Gewinns von über 22 Milliarden Euro im vergangenen Jahr und 10 Milliarden Euro im ersten Halbjahr 2024, drei der zehn Werke in Deutschland schließen zu wollen?
Der Blick zurück auf vergangene Erfolge hilft nicht. Der Konzern muss nach vorne schauen – und da sieht es für die erfolgsverwöhnten Niedersachsen nicht gut aus. Die Börse, an der bekanntlich die Zukunft gehandelt wird, spricht eine klare Sprache: Die Marktkapitalisierung beträgt heute nur noch rund 50 Milliarden Euro. Sie ist seit 2021 kontinuierlich gesunken und liegt mittlerweile unter dem Buchwert.
Der Konzern muss in vielerlei Hinsicht umsteuern. Der Abbau von Fertigungskapazitäten, die ohnehin nicht ausgelastet sind, ist da sicherlich eine der möglichen Maßnahmen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Lohn- und Gehaltsniveau bei VW weit überdurchschnittlich ist. In Zeiten sprudelnder Gewinne war dies finanzierbar, zukünftig aber vielleicht nicht mehr.
Inwiefern wird die angekündigte Schließung von VW-Werken Ihrer Meinung nach die deutsche Automobilindustrie insgesamt beeinflussen, insbesondere im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft im Vergleich zu internationalen Konkurrenten, vor allem aus China?
Die Automobilindustrie in Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Ein Kernproblem ist, dass die Innovationspotenziale unserer Industrie in Bereichen liegen, die an Bedeutung verlieren. Hierzu zählt insbesondere das Knowhow rund um den Verbrennungsmotor, welches in China in der Form nicht vorhanden ist, bei einem Wandel zur E-Mobilität aber auch keine Rolle mehr spielt. Von immer größerer Bedeutung sind hingegen die Batterietechnik, die in Deutschland unterentwickelt ist, aber auch die Digitalisierung im Auto.
Den Neubau einer Batteriefertigungsfabrik hat VW mangels ausreichender Nachfrage nach seinen E-Autos jüngst abgeblasen. Und der Versuch vom VW, mit CARIAD eine eigene Software-Lösung für seine Autos zu entwickeln, ist nach Jahren letztlich gescheitert. All dies ist nicht unbedingt Ausweis großer eigener Innovationskraft. Im europäischen Vergleich ist VW da übrigens nicht alleine. Stellantis, der französische Mutterkonzern, unter anderem von Opel und Fiat, hat ähnliche Probleme.
Welche Auswirkungen erwarten Sie auf den deutschen Arbeitsmarkt, insbesondere in Bezug auf die Arbeitslosenquote, wenn Zehntausende von Arbeitsplätzen bei Volkswagen wegfallen? Wird dieser massive Stellenabbau Signalwirkung haben und andere Autobauer in Deutschland nachziehen?
Etwaige Werkschließungen von VW werden sich auf den Arbeitsmarkt insgesamt nur wenig auswirken. Perspektivisch werden in Zeiten von Fach- und Arbeitskräftemangel entlassene Beschäftigte andere Anstellungen finden. Der Umbruch selbst wäre für die Betroffenen persönlich natürlich drastisch und für Niedersachsen, wo sieben der zehn deutschen Werke stehen, unter Umständen erheblich. Ob man aus dem Fall VW auch auf andere deutsche Hersteller schließen kann, bleibt abzuwarten. VW hat sich in Sachen Elektromobilität deutlich weiter aus dem Fenster gelehnt als BMW und Mercedes. Diese haben zwar auch mit rückläufigen Absatzzahlen zu kämpfen, sind aber hinsichtlich der Antriebsart breiter aufgestellt. Insgesamt ist aber wohl zu erwarten, dass der Automobilsektor an volkswirtschaftlicher Bedeutung verlieren wird.
Wie schätzen Sie die Verhandlungen zwischen Volkswagen und den Arbeitnehmervertretungen ein? Glauben Sie, dass diese Gespräche zu einer Lösung führen können, die sowohl die wirtschaftlichen Notwendigkeiten des Unternehmens als auch die Arbeitsplatzsicherheit der Mitarbeiter berücksichtigt?
Aufgrund der starken Stellung von Niedersachsen bei VW werden die Gespräche sicherlich das Management in seiner Entscheidung beeinflussen. Da aber im großen VW-Reich zu viele unterausgelastete Fabriken existieren, werden dann eben Standorte jenseits von Deutschland betroffen sein. Das Werk im belgischen Brüssel gilt seit Jahren als Problemfall; ihm droht schon länger die Schließung. Die beste Arbeitsplatzsicherheit bietet hingegen nicht eine staatliche Garantie, sondern ein Produktportfolio, das Kundinnen und Kunden gerne kaufen. Das scheint bei VW nicht mehr der Fall zu sein. Das ist die entscheidende Frage für das VW Management.
In Anbetracht der aktuellen Entwicklungen: Welche Maßnahmen sollten Ihrer Meinung nach von der Regierung oder anderen Institutionen ergriffen werden, um die negativen Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft und den Arbeitsmarkt abzumildern?
Viele werden jetzt nach Absatzhilfen für von VW produzierten Autos rufen. Das wäre eine fiskalisch teure Maßnahme mit sehr begrenztem Effekt. Erstens bergen staatliche Kaufanreize stets die Gefahr von Mitnahmeeffekten (man wollte das Auto ohnehin kaufen, jetzt gerne mit der Hilfe). Zweitens ist unklar, ob eine solche Prämie Autokäuferinnen und -käufer entlastet oder gänzlich vom Hersteller eingestrichen wird. Und drittens ist der deutsche Markt viel zu klein, um einen strukturellen Nachfragerückgang zu beheben.
Die Politik sollte stattdessen ein ganz anderes, viel größeres Problem angehen: die drohende Abschottung des US-amerikanischen und des chinesischen Automarktes. Beide Länder haben beschlossen, Autos mit Software aus dem jeweils anderen Land nicht mehr zuzulassen. Die chinesische Volvo-Tochter Polstar fürchtet bereits, den Betrieb in den USA einstellen zu müssen. Für weltweit operierende Konzerne wie VW ist diese De-Globalisierung ein Alptraum, weil er zum Beispiel Exporte der in China von VW gefertigten Fahrzeuge in die USA erschwert oder sogar unmöglich macht. VW, wie aber auch alle anderen Hersteller, muss nun für jeden der beiden großen Märkte eigene Fahrzeuge entwickeln. Die jüngst geschlossene Kooperation mit dem US-Softwareunternehmen Rivian wäre für China gänzlich hinfällig.
Hat die Autoindustrie wegen der vergleichsweise hohen Kosten, beispielsweise für Energie, und der üppigen Verwaltung in Deutschland überhaupt noch eine Zukunft? Kann sich Deutschland ein Subventionsfass ohne Boden für den Erhalt von Zehntausenden Arbeitsplätzen in der Autoindustrie leisten?
Die Politik hat es der Autoindustrie – aber auch anderen Wirtschaftszweigen – in den letzten Jahren (wenn nicht Jahrzehnten) nicht leichtgemacht. Deutschland wird in internationalen Standortrankings nach hinten durchgereicht. Die Problemfelder sind bekannt, und hohe Energiekosten sowie eine überbordende Bürokratie im föderalen nicht-digitalisierten Deutschland sind ein Standortnachteil. Hiergegen helfen keine Subventionen, sondern nur politische Veränderungen.
Das Interview führte Sylke Schumann, Pressesprecherin der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin).
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